Anläßlich der Vorstellung der Festschrift “Heinrich-Mann-Gymnasium Erfurt, Staatliches Gymnasium Zur Himmelspforte 1844 -2019” hielt Prof. Dr. Bentzinger, Stiftungsrat der Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat, eine Festrede, mit der er die Zeitläufte der Schule bis in die Gegenwart zeichnete. Wir freuen uns, dass Herr Prof. Dr. Bentzinger seine Worte für die Veröffentlichung an dieser Stelle zur Verfügung gestellt hat.
Sehr geehrte Frau Direktorin Berke!
Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Hofmann-Domke!
Sehr geehrter Herr Vorsitzender des Fördervereins, Herr Jungnickel!
Sehr geehrte Lehrer und Mitarbeiter des Heinrich-Mann-Gymnasiums Erfurt!
Liebe Schüler!
Liebe Gäste!
Zuvor möchte ich dem schönen Auftrag nachkommen, die Grüße der Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat in Bonn, bei der ich als stellvertretender Vorsitzender des Stiftungsrates fungiere, anlässlich dieser Festveranstaltung dem Heinrich-Mann-Gymnasium Erfurt zu überbringen. Diese Stiftung wurde 1955 als Verein begründet, um das Bewusstsein für die Bedeutung des mitteldeutschen Raumes als Kulturlandschaft auch in der alten Bundesrepublik wachzuhalten. 1976 wurde der Verein in eine Stiftung des öffentlichen Rechtes umgewandelt, verfolgt also ausschließlich gemeinnützige Zwecke. Dazu gehört auch die Förderung von schulgeschichtlichen Projekten. Bereits Anfang der 1970er Jahre brachte der Mitteldeutsche Kulturrat drei Bände „Aus der Geschichte bedeutender Schulen Mitteldeutschlands“ heraus, deren dritter Band 1972 den Gymnasien Thüringens gewidmet ist. Hier geht es auch um das Erfurter Gymnasium; folglich werden einige Lehrer, die auch an dieser Schule gewirkt haben, gewürdigt, Gottfried Wolterstorff und Hieronymus Krause. Eine freundliche Rezension der von Michael Friese, Karl Heinemeyer und Michael Ludscheidt herausgegebenen Festschrift „450 Jahre Ratsgymnasium Erfurt 1561 – 2011“ wurde im Publikationsorgan unserer Stiftung, dem Mitteldeutschen Jahrbuch, veröffentlicht, und gern haben wir die heute vorzustellende Festschrift personell und finanziell gefördert. Wir, die Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat, gratulieren dem Heinrich-Mann-Gymnasium Erfurt, dem Staatlichen Gymnasium „Zur Himmelspforte“ von Herzen zu ihrem bedeutenden Jubiläum und wünschen der Direktorin, Frau Berke, allen Lehrkräften und Mitarbeitern und natürlich auch allen Schülern Gesundheit, Freude und Erfolg bei der Arbeit und heute einen guten Verlauf der zu Recht frohen Veranstaltung.
Nun zum eigenen Erleben:
Es ist nicht einmal ein Zwanzigstel meiner Lebenszeit – sie hat fast die Hälfte der Jahre dieser Schule erreicht -, die ich hier verbrachte, von 1950 – 1954, aber für uns, die wir die Kindheit in der Kriegs- und Nachkriegszeit verbracht haben, waren es prägende Jahre, und durch eine Besonderheit erlebte unsere Klasse – der altsprachliche Zweig mit den Fremdsprachen Russisch, Latein und Griechisch – einiges der Schulgeschichte hautnah: Die Hälfte unserer ohnehin kleinen Klasse war katholisch und besuchte das Internat „Conradhaus“, und zu den nicht gerade seltenen katholischen Feiertagen wurde uns übrig gebliebenen 5 – 6 Schülern kein Stoff vermittelt, sondern Schulgeschichte erzählt: Herr Dr. Teitge, unser erster Griechisch-Lehrer, eigentlich Germanist und Historiker, berichtete über die Geschichte der alten Porta coeli vom Amplonianum in der Michaelisstraße über die Zeit in der Marktstraße bis zum Umzug in das hiesige Gebäude. Das Spätmittelalter spielte dabei eine besondere Rolle. Selbstverständlich wusste er, dass das Realgymnasium nicht der juristische Nachfolger des Universitätskollegs war, sondern dass eine Namensübertragung vorliegt, aber die Berufung der Schule auf eine Universitätstradition wurde mit Herzblut vermittelt. Unser Lateinlehrer, Herr Oberstudiendirektor Franke (Titel waren damals noch wichtig) schilderte anschaulich alle Vorgänge beim Neubau der Schule, die er als Direktor ja gelenkt hatte, und die ersten Jahre im heute denkmalgeschützten Gebäude. So waren wir Vierzehnjährige schon eingestimmt in die Schicksale der Schule, die wir gern als „unsere“ sahen. Es ging nicht um Elitebewusstsein oder gar Standesdünkel, sondern um die Verpflichtung, sich durch gute Leistungen dieser traditionsreichen Einrichtung würdig zu erweisen. Die Anforderungen waren hoch; eine Zwei gab es nur bei Leistungen, die über das im Unterricht Gebotene weit hinaus gingen, eine Eins gab es nur in ganz seltenen Fällen, das Ziel hatte für alle die Drei, das „Genügend“, zu sein, denn das hieß, dass jeder den Anforderungen an die „über dem Durchschnitt Stehenden“ „genügte“. Auch Prüfungen wurden ernst genommen. Zu meinem Abitur erschien Dr. Wolterstorff in Frack und Zylinder. Das kam uns damals auch komisch vor – für mich eine Schrecksekunde, denn ich musste ernst bleiben, auf ihn zugehen, ihn begrüßen, denn wenig später war er mein Prüfer -, aber es war doch ein Zeugnis für die Achtung, die auch die Lehrer der Schulabschlussprüfung entgegenbrachten. Es herrschte ein heute unvorstellbares persönliches Lehrer-Schüler-Verhältnis: Dr. Wolterstorff kondolierte seinen Schülern schriftlich, wenn ein naher Angehöriger verstorben war. Fehler wurden zwar als normal bei Schülern angesehen, aber der Schüler bekam einen charakteristischen Fehler gern unter die Nase gerieben. Dr. Wolterstorff war hier Meister. Über Jahrzehnte hinweg merkte er sich Fehler seiner Schüler. Das war das Glück eines Klassenkameraden von mir: Wir hatten die korrigierten Klassenarbeiten von den Eltern unterschreiben zu lassen. Dieser Mitschüler stammte aus einer Gelehrtenfamilie, sein Vater war ein in Erfurt hochangesehener Pfarrer, und als dieser ob eines Fehlers in der Griechischarbeit eine Philippika starten wollte, grinste mein Jörg: „Der Wolterstorff hat gesagt: Du hast das auch falsch gemacht.“
Es geht jetzt keineswegs um Nostalgie. Wenn heute das 175jährige Bestehen dieser Schule als staatliche Einrichtung gefeiert wird, soll das hohe Niveau dieses Gymnasiums bzw. Realgymnasiums gewürdigt werden. Mein erstes Zeugnis trägt noch den Stempel „Schule ‚Zur Himmelspforte‘“, aber im Januar 1951 erfolgte die Umbenennung in Heinrich-Mann-Schule. Wir waren darüber keineswegs glücklich, und unser Klassenlehrer Konrad Franke erklärte leidenschaftslos: „Wenn meine alte Himmelspforte stirbt, muss ich nach Hause gehen.“ Er blieb den Feierlichkeiten fern. Brachte der neue Name ein neues Leben oder gar einen Umbruch? Der Direktor Hieronymus Krause blieb – zunächst. Er hielt hier in der Aula zündende Reden – er war früher katholischer Priester gewesen, und man sagte ihm nach, dass er stets volle Kirchen hatte – und sprach leidenschaftlich über das Heinrich-Mann-Zitat „Euer Volks liebend, könnt ihr die Menschheit nicht hassen“. Diesen Satz ließ er auch im Foyer im ersten Stock gegenüber dem Eingang zum Musiksaal und zur Aula anbringen. Mich hat er stark beeindruckt, denn immerhin habe ich als kleiner Junge den Zweiten Weltkrieg mit seinen schrecklichen Folgen erlebt. Der junge Herausgeber der heutigen Schulfestschrift Tom Fleischhauer arrangierte die Verbindung zum Literaturarchiv der Akademie der Künste in Berlin, und Frau Christina Möller informierte uns, dass dieses Zitat aus einem Essay Heinrich Manns stammt mit dem Titel „Das junge Geschlecht“. Sie kommentierte: „Darin wendet er sich an junge Menschen, weshalb das Zitat im Schulzusammenhang sehr passend ist.“ Könnte ein solches Fest wie das heutige nicht ein Anlass sein, diesen Satz des Namensträgers der Schule wieder an würdiger Stelle in diesem Gebäude anzubringen?
Ehrlichkeit gebietet den Hinweis, dass dieser schöne Spruch im Foyer in den Wirren dieser Jahre nicht die Wirkung hatte, die er verdient hätte. Es kam bald der Einbruch sozialistischer Indoktrination, die in den in der Festschrift mehrmals geschilderten Kirchenkampf im Frühjahr 1953 mündete. Die Schulleitung hatte ihn nicht initiiert; unvergesslich bleibt mir der Ausruf des Genossen Caesar (er hieß tatsächlich so!) von der benachbarten FDJ-Schule hier in dieser Aula: „Ich glaube, man muss an dieser Schule etwas radikal vorgehen!“ Wenn mehr als 100 Schüler, die sich geweigert hatten, einen Text zu unterschreiben, die Junge Gemeinde als Nachwuchsorganisation der Evangelischen Kirche sei ein Handlanger des aggressiven Imperialismus, beim Fahnenappell vom Direktor erfahren, sie seien „beurlaubt“, sich umdrehen und stumm das Gelände verlassen, löst das bei allen Beteiligten – auch bei mir – Entsetzen aus. Es war sinnigerweise der 8. Mai, der „Tag der Befreiung“. Die in der Festschrift veröffentlichten Materialien zu diesen Vorgängen zeigen, dass die Schulleitung, Kurt Ludwig als Direktor und Klaus Mandler als Parteisekretär, hoffnungslos überfordert war; beide waren ja noch keine dreißig Jahre alt. Nach ein paar Tagen durften alle „Beurlaubten“ wiederkommen. Die ganze Aktion offenbart einen bemerkenswerten Dilettantismus, der bei den späteren Relegationen an Oberschulen in Berlin oder an anderen Orten nicht mehr passierte: Da durfte niemand mehr wiederkommen. In dieser Kirchenkampfzeit geschah im hiesigen Raum etwas Bedeutsames: Mein Klassenkamerad Georg Sterzinsky hatte der FDJ-Leitung der Schule seinen FDJ-Austritt erklärt, und nachdem die Schulkonferenz seine Relegation angestrengt hatte, musste die Schülervollversammlung hierzu Stellung nehmen. Ich war – hier in der Aula – zugegen. Der FDJ-Sekretär, ein Schüler einer Parallelklasse, forderte als Scharfmacher unnachsichtig Georgs Hinauswurf. Mir fiel auf, dass der Parteisekretär Klaus Mandler stets milderte, ja abwiegelte. Nach einiger Zeit konnte Georg mitgeteilt werden, dass er an der Schule bleiben kann. Er studierte nach seinem Abitur in Erfurt Theologie, wurde ein ausgezeichneter katholischer Pfarrer und im September 1989 Bischof, später Erzbischof von Berlin. Klaus Mandler, der Schlimmes verhütet hatte, verließ wenige Jahre nach unserem Abitur die DDR, und Jahrzehnte später erfuhr ich, dass beide Herren Kontakte unterhielten. Es ist kein Geheimnis, dass der Bundeskanzler Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit, sich oft telefonisch Ratschläge einholte. Zu den Telefongesprächspartnern gehörte auch mehrmals der Erzbischof von Berlin, und diese Telefonate blieben nicht folgenlos auf wichtige Entscheidungen bei der Herstellung der deutschen Einheit. Vorgänge in diesem Raum hatten also – man kann es ohne Übertreibung sagen – gesamtdeutsche Auswirkungen, und wir sollten die Lehrer, die damals folgenreiche Entscheidungen zu treffen hatten, aber selbst unter Zwängen standen, nicht vorschnell verurteilen. Sie haben mehr für uns getan, als wir wussten.
In den folgenden Jahrzehnten hatte ich keine direkten Verbindungen zur Heinrich-Mann-Schule. Wohl aber kann ich zu meiner Freude aus meiner langjährigen Hochschullehrertätigkeit in Leipzig sagen, dass Absolventen dieser Oberschule sich eines guten Rufes erfreuten. Es war uns klar, dass die Lehrer zwar nur begrenzte Möglichkeiten hatten, diese aber ausschöpften. Wir feierten 2004 – auch hier in dieser Aula – unser Goldenes Abitur, und dieses Fest war uns Anlass genug, in einem Memorandum die Rückbenennung „Gymnasium Zur Himmelspforte“ anzuregen. Die Presse ließ das nicht unerwähnt. Tatsächlich beschloss die Schulkonferenz am 13. September 2005 einstimmig den Namenszusatz „Zur Himmelspforte“. Ich erhielt zur Festveranstaltung zur offiziellen Namensverleihung am 31. März 2006 eine Einladung. Leider konnte ich ihr auf Grund unaufschiebbarer Berliner Verpflichtungen nicht Folge leisten. das tut mir heute noch leid.
Wohl aber bekam ich aus erfreulichem Anlass gegen Ende der DDR, im Jahr 1988, wieder Verbindung zu Kurt Ludwig. Er hatte das hiesige Direktorat 1968 niedergelegt und war zum Kulturbund gewechselt. Dieser führte 1988 in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Akademie Erfurt eine Festveranstaltung zum 500. Geburtstag des Erfurter Humanisten Eobanus Hessus durch, und ich war eingeladen worden, hier einen Vortrag zu halten. Mir war klar, dass eine Wiederbegründung der Universität in Erfurt in der Luft lag, und so sagte ich gern zu. Wir freuten uns beide, Kurt Ludwig und ich, über das Wiedersehen nun in ganz anderer Konstellation, und nach der Veranstaltung kam ein Herr auf mich zu, der für Erfurts Geistesleben dieser Jahre eine bedeutende Rolle spielte: Horst Rudolf Abe, langjähriger Leiter der Abteilung „Geschichte der Medizin“ an der Medizinischen Akademie Erfurt. Als Absolvent der „Himmelspforte“ vom Jahre 1947, der sich in der Tradition der Porta coeli sah, führte er engagiert Forschungen zur Geschichte der Erfurter Universität und der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt durch und leitete seinen Schüler und Mitarbeiter Jürgen Kiefer, Absolvent der Heinrich-Mann-Schule 1972, zu weiterer Arbeit an. Die Veröffentlichungen beider in diesen Jahren zur Universitätsgeschichte sind für die heutige Arbeit unverzichtbar, und beide spielten eine entscheidende Rolle bei der Initialzündung zur Wiederbelebung der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt ab 1990. Ich denke, dass beide auch wussten, dass der Initiator der Realschule, des späteren Realgymnasiums, Ephraim Salomon Unger, zu den letzten Lehrern der hiesigen Universität gehörte, bevor er seine „Lehranstalt“ , aus der unsere Schule hervorging, ins Leben rief.
Noch ein Weiteres sei hier genannt: Der Kulturbund Erfurt bot 1987 der Interessengemeinschaft Alte Universität Erfurt ein Dach, und mein langjähriger Historiker-Kollege und Freund Ulman Weiß hat zu Recht in seinem jüngst erschienenen Aufsatz zur Erfurter Universitätswiederbegründung 1994 im Jahrbuch für Universitätsgeschichte mit Nachdruck betont, dass in dieser Bürgerbewegung die eigentliche Keimzelle der heutigen Universität liegt. Beide Male, im 14. und im 20. Jahrhundert, ist die Universität Erfurt von Bürgern begründet worden. Die Rolle des Kulturbundes, an dessen Spitze Kurt Ludwig stand, bleibt meist ungenannt. Aber: Schließt sich hier nicht ein Kreis? Das Bewusstsein, in der Tradition des Universitätskollegs zu stehen, war so stark, dass es mit Sicherheit verantwortungsbewusste Bürger bewog, für eine neue Universität zu kämpfen (und damit auch für die Wiederbelebung der juristisch nicht unterbrochenen Akademie). Diese Schule – gestatten Sie mir, dass ich sage: Unsere Schule – hat also für die kulturelle Entwicklung Erfurts und darüber hinaus für unser wiedervereinigtes Land eine größere Bedeutung, als das manchem bewusst ist. Das kann uns mit Freude erfüllen, und so sehen Sie es dem Germanisten nach, der sich zeitweise als Goethe-Philologe betätigte, dass er seine kurzen Worte, die sehr wohl eine Dankesrede sein sollen, mit einem Goethe-Zitat beendet. Es stammt aus dem Jahre 1817 und erschien zuerst als Motto der Zeitschrift „Zur Naturwissenschaft überhaupt“, die bis 1824 erschien. Goethe muss diese Verse selbst für wichtig gehalten haben, denn er stellte sie in der Ausgabe letzter Hand 1827 der Abteilung Gott und Welt als „Vorspruch“ voran:
Langer Jahre redlich Streben,
Stets geforscht und stets gegründet,
Nie geschlossen, oft geründet,
Ältestes bewahrt mit Treue,
Freundlich aufgefasstes Neue,
Heitern Sinn und reine Zwecke –
Nun! man kommt wohl eine Strecke.
In diesem Sinne: Nochmals herzlichen Glückwunsch und ein frohes Weiter so!